Wie Kinder lernen, ihre Probleme selbst zu lösen

Wie Kinder lernen, ihre Probleme selbst zu lösen

Wie Kinder lernen, ihre Probleme selbst zu lösen

Sich der Probleme des Gegenübers anzunehmen, passiert oft ganz automatisch. Schliesslich möchte man seine Liebsten unterstützen. Doch dabei überschreitet man schnell die eigenen Grenzen und missachtet die Selbstwirksamkeit des anderen. Familienberaterin Susanne Schultes weiss, wie Sie Ihr Kind bei der Problemlösung unterstützen, ohne selbst die Verantwortung zu übernehmen. Von Susanne Schultes (22.4.2021) Bild: shironosov, Getty Images

Meine 16-jährige Tochter ruft mich abends von ihrer Freundin aus an und fragt: «Mami, kannst du mich bitte abholen? Ich bin spät dran und muss noch meine Hausaufgaben erledigen. Wenn ich zu Fuss komme, brauch ich umso länger.» Was würden Sie tun? Ich kenne bei mir den Reflex: «Hausaufgaben? Pflichten erledigen? Ja, klar, das hat Vorrang. Also hopp, hol sie ab.» Was hierbei passiert: Ich involviere mich umgehend in ihr Problem. Und in meinem Fall fühle ich mich sogar verantwortlich dafür, dass sie ihre Hausaufgaben macht.

Eigene Grenzen wahren

Woher kommt dieser Reflex? Oft stecken eigene Glaubensmuster dahinter. Hier etwa: «Hausaufgaben müssen erledigt werden.» In diesem Beispiel spielt aber auch das Ansehen eine Rolle: Ich möchte, dass meine Kinder mit erledigten Hausaufgaben in die Schule gehen. Was denken denn sonst die Lehrer über unser Kind und unsere Familie?

«Das sind ja auch legitime Gründe» denken Sie jetzt vielleicht. Dennoch ist es nicht immer förderlich – weder für den einen noch für den anderen – sich jederzeit der Probleme des Gegenübers anzunehmen. Denn so leert sich einerseits Ihr eigener Energietank und Sie laufen Gefahr, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu übersehen. Zudem verpassen Sie es, Ihrem Gegenüber diese persönlichen Grenzen aufzuzeigen – was wiederum nötig ist, um eine gesunde Balance in der Beziehung zu erhalten.

Die Selbstwirksamkeit des Gegenübers respektieren

Wenn man die Probleme des Gegenübers angeht, raubt man ihm dadurch auch die Möglichkeit, selbstständig zu handeln. Alle Menschen – insbesondere Kinder – streben jedoch während ihrer gesamten Entwicklung nach Autonomie, Zugehörigkeit und Entwicklung. Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit spielen hierfür eine wichtige Rolle.

Je mehr Eltern ihren Kindern das wichtige Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit erfüllen beziehungsweise zugestehen können, desto eigenverantwortlicher und selbstbewusster entwickeln sich die Kinder. Deshalb ist es wichtig, sich dieses Bedürfnis bewusst zu machen und den Automatismus von «Komm, lass dir helfen» zu überdenken. Halten Sie lieber einmal mehr Inne, um zu erkennen, wer jetzt eigentlich das Problem hat, anstatt sofort zu handeln.

Warum es die Beziehung stärkt, wenn jeder seine eigenen Probleme löst

Hinter dem automatisierten «Ich-nehme-dir-das Problem-mal-lieber-ab» stecken aber noch weitere Gründe. Einer ist der, dass wir in einer Beziehung für unsere Nächsten wertvoll sein möchten. Deshalb will man dem anderen möglichst helfend zur Seite stehen.

Sage ich etwa meiner Tochter, dass ich sie nicht abhole, kann es durchaus sein, dass ich bei ihr einen Minuspunkt kassiere. Und das tut vielleicht weh. Dennoch lohnt es sich, dieses Risiko einzugehen. Insbesondere dann, wenn ich in diesem Moment wirklich nicht fahren möchte (vielleicht schaue ich gerade einen spannenden Film). Oder wenn es mir wichtig ist, dass meine Tochter genau diese Erfahrung macht – ohne, dass ich mich helfend einbringe.

Dadurch, dass ich meine Grenzen erkenne, stärke ich mich selbst. Aber auch bei meiner Tochter wird so das Vertrauen und der Respekt mir gegenüber gefördert, da ich authentisch «nein» sage, wenn ich «nein» meine. So weiss sie, dass ich die Verantwortung für mich selbst getrost übernehme – und braucht somit auch keine Schuldgefühle zu entwickeln.

Die Probleme der anderen nicht zu übernehmen hat gleich mehrere Vorteile für einen selbst:

  • Man erfährt Erleichterung und neue Kraft, welche die Empathiefähigkeit stärkt
  • Man bleibt bei sich selbst und wird sich seiner persönlichen Grenzen bewusst
  • Man verzettelt sich nicht ständig und lädt sich selbst neue Herausforderungen auf

 

Aber auch für das Gegenüber ergeben sich folgende Gewinne:

  • mehr eigene Kraft
  • mehr Selbstwirksamkeit
  • mehr Handlungsfähigkeit
  • mehr Entscheidungsfähigkeit
  • mehr kreative sowie auf die eigene Person abgestimmte Lösungsfindungen
  • mehr Selbstvertrauen
  • mehr Selbstwertgefühl

 

Fazit

Dadurch, dass Sie die Lösung der Probleme des Gegenübers ihm selbst überlassen, kann sich auch die Beziehung positiv verändern, da Sie dadurch Vertrauen zeigen und das Gegenüber stärken.

Bevor Sie also zukünftig ganz automatisiert die Probleme für Ihre Liebsten lösen, atmen Sie tief durch und bringen Ihrem Gegenüber echte Empathie und Anteilnahme entgegen. Für Sie und Ihr Gegenüber ist es um ein Vielfaches hilfreicher, wenn Sie ein offenes Ohr für seine Probleme haben und ihm deutlich machen, dass Sie sich in ihn hineinversetzen können.

 

Link zum Artikel auf familienleben.ch

Logo der Website familienleben

Die nächsten Kurse und Angebote:

Mi 19.5.2021, 19.30–21.00 Uhr, ONLINE Referat: Gelingende (Familien-) Kommunikation – wie geht das?

Do 27.5.2021, 19.45–21.45 Uhr, ONLINE Workshop „Aggression – Raus aus der Negativspirale“

Mi 2.+9.6.2021 19.45–21.45 Uhr, ONLINE Workshop „Gelingende Paar-Kommunikation“

Sa 5.6.2021, 9.00–12.00 Uhr, Praxisberatung und Vertiefung Gelingende (Familien-) Kommunikation, Praxis Rosenegg, Männedorf