„Alles wie verriegelt …“

Illustration zu "wie verriegelt"

„Alles wie verriegelt …“

“Die Schule ist wie ein Gefängnis. Früher durften wir noch selbst entscheiden, wo wir im Kreis in der Klasse sitzen. Dann fing der Lehrer an, den Sitzplatz einzelner Schüler zu bestimmen – und heute darf gar niemand mehr sitzen, wie er will. Die Lehrerin hat alles wie„verriegelt“. Ich sitze eingequetscht und habe nicht genügend Platz“

Es ist früh morgens vor Schulbeginn. Ich sitze mit meinem Tee am Frühstückstisch als ich diese Worte von meinem 9-jährigen Kind höre. „Gefängnis“ – Blitzartig fühlt es sich in mir drin an, als schnüre sich mein Herz zusammen. In meinem Bauchraum beginnt es zu brennen. Ich spüre, wie ein Gefühl von Unverständnis in mir aufsteigt und Fragen in mir auftauchen: „Wieso merken die Lehrer nicht, dass Kinder auch Menschen sind?“, „Wieso vertrauen die Lehrer nicht stärker in die sozialen Kompetenzen der Kinder?“ Nachdem ich am liebsten sofort für Gerechtigkeit für mein Kind sorgen würde – ich denke an mich und meinen Alltag, wo ich mir, wenn immer möglich, meinen Platz aussuchen will – macht sich in mir ein Gefühl der Machtlosigkeit breit. Gleichzeitig fühle ich mich verantwortlich für das Leid meines Kindes – und schuldig dazu.
Daneben taucht das Bild des Lehrers in mir auf und die Frage: „Wie würde ich es denn an seiner Stelle handhaben?“ Ich kann mir nur annähernd vorstellen, wie es als Lehrer einer 23-köpfigen Klasse mit individuellen Kindern unterschiedlichster Familien ist. Mir kommt ein Bekannter in den Sinn, der als Lehrer einer Primarklasse völlig überfordert war. Er gab seine Vorstellung der Begegnung „auf Augenhöhe“ zwischen ihm und den Schülern/Schülerinnen auf, nachdem er in eine Erschöpfungsdepression gefallen war.

Umgehend wird mir klar, dass diese gesamten Regungen in mir mein eigenes sind. Es ist meine Resonanz auf das, was mir mein Kind erzählt. Entstanden aus meinen eigenen Erfahrungen und den Schlüssen, die ich daraus gezogen habe. Es sind meine Gefühle, die sich melden. Mir wird bewusst, dass es hier nicht darum geht, Partei für mein Kind oder den Lehrer zu ergreifen, nicht darum, irgendwem beizupflichten. Auch nicht darum, Erklärungen zu finden oder die Aussagen meines Kindes zu relativieren.

In dieser Situation morgens vor der Schule, als mein Kind mir das erzählt, entscheide ich mich dazu, hilfreich für mein Kind da zu sein. Meine Aufgabe ist eben nicht, das Problem zu übernehmen, was meinem Kind auch in keiner Weise weiterhilft. So schnell wir als Eltern auch in dieses „Problem-Übernehmen“ reinrutschen – so wenig dienlich ist es für unser Gegenüber, in diesem Beispiel das Kind, wenn es ein Problem hat und deswegen unglücklich ist.

Kürzlich haben Eltern Im Gordon-Familientrainingskurs zusammengetragen, was nicht hilfreich wirkt, wenn mein Kind ein Problem hat. Hier ein Auszug davon: „Gutgemeinte“ Ratschläge erteilen, Lösungen bereithalten, sich nicht einlassen auf das Kind wie z. B. sich nicht die Zeit nehmen oder sich vom Kind abzuwenden und nicht zuhören, das Kind belehren wie z. B. „Ihr müsst halt brav sein im Kreis“, das Erzählte bewerten wie z.B. aufbauschen oder abwerten, ablenken, beschwichtigen, sich über das Kind lustig machen – oder eben das Problem übernehmen und selber in den „ich-habe-ein-Problem-Bereich“ rutschen.

Was braucht denn mein Kind stattdessen?

Was meinem Kind in einer Situation wie an diesem Morgen hilft, ist, dass ich mich ihm wertfrei zuwende. Dass ich mich einlasse auf mein Kind, genau in seinem jetzigen Zustand, es akzeptiere mit seiner Aussage, genauso unglücklich, wie es in diesem Moment zu sein scheint. Nichts ist so hilfreich, wie wenn ich ihm diesen nicht wertenden, annehmenden Raum gebe. Mein Kind darf unglücklich sein. Ich halte seine ausgesprochenen Worte aus, kann sie so stehenlassen. So bekommt mein Kind die Möglichkeit, seinen Gefühlen nachzuspüren. Es kann in diesem Angehörtwerden mit seinen Gedanken spielen, seinen Worten nachfühlen, sich die Zeit und den Raum nehmen, sich selber zu erkunden, angstfrei, mit allem, was sich in ihm regt – im Wissen, dass ich ihm zuhöre, dass ich da bin, mich für es interessiere, ihm keine Lösungsvorschläge „andrehe“, das Gesagte nicht bewerte, herunterspiele oder dramatisiere. Es darf einfach so sein.

An diesem Morgen gab es keine Lösung des „Problems“. Mein Kind ging wie gewohnt zur Schule. Wie ganz selbstverständlich.

Mein Kind machte heute Morgen die Erfahrung, dass ich für es da war – wertfrei, vollumfänglich interessiert an ihm und seinem inneren Erleben, nonverbal sowie verbal und mit all meinen Sinnen zugewandt, mein Kind unbedingt wertschätzend, genauso, wie es vor mir stand. Und mich emphatisch in mein Kind einfühlend, versuchend, ein Stück weit in seinen Schuhen zu gehen und ihm trotzdem nichts von mir „überzustülpen“, was vielleicht in „meinen Rucksack“ gehört.

Ich bin überzeugt davon, dass genau diese menschlichen Begegnungen heilsam sind, und dass sie es sind, die unser Selbstgefühl und unser Selbstwertgefühl stärken – und obendrauf die zwischenmenschlichen Beziehungen ungemein bereichern und unsere Verbundenheit fördern.